10

Andie DeGrasse kam an diesem Vormittag fünfzehn Minuten zu spät. Ausgerechnet an diesem Vormittag. Wie konnte das passieren? Nun ja, das war ganz einfach …

Zuerst hatte Jarrod sein Mathebuch nicht finden können. Dann hatte die U-Bahn wegen einer Signalstörung Verspätung gehabt. Dann, als sie endlich die Station City Hall erreicht hatte, waren die zwei Blocks bis zum Gericht abgesperrt, und das nur wegen dieses verdammten Prozesses.

Sie brauchte fünfzehn Minuten, nur um die Sicherheitsüberprüfungen über sich ergehen zu lassen. Ihre Handtasche wurde von einer kräftigen Beamtin in blauem Blazer durchwühlt, als stünde al-Qaida auf der Schnalle, und ihr Handy untersucht wie eine Massenvernichtungswaffe. »Sie wissen doch, dass oben im sechsten Stock dieser Mafia-Prozess stattfindet, oder?« Die Sicherheitsbeamtin nickte. »Tja, der wird ohne mich nicht anfangen.«

Als sie in den Geschworenenraum platzte, saßen die anderen nervös und angespannt um den großen Konferenztisch.
»Tut mir leid.« Andie seufzte laut und grüßte ein paar vertraute Gesichter. »Wenn ihr wüsstet.«
»Ms. DeGrasse«, meldete sich Sharon Ann mit einer Namensliste zu Wort, »es ist schön, dass Sie trotz Ihres vollen Terminkalenders etwas Zeit für uns gefunden haben.«
Fing ja schon gut an. Andie setzte sich verlegen an den Tisch, zufällig neben Rosella, die Latinofrau, neben der sie schon bei der Auswahl gesessen hatte.
»Fehlt also nur noch Mr. O’Flynn.« Sharon blickte wenig belustigt auf ihre Liste.
Ein paar Männer lasen Zeitung oder lösten Kreuzworträtsel. Zwei der Frauen hatten Taschenbücher dabei. Auf dem Tisch standen Bagels, Muffins und Kaffee, mit freundlicher Empfehlung des Gerichts.
»Hier.« Rosella reichte ihr das Tablett.
»Danke.« Andie lächelte, erfreut, die Aufmerksamkeit von sich ablenken zu können. Sie nahm mit einer Serviette einen Muffin. »Kein Milchkaffee, wie ich sehe.«
Leises Kichern am Tisch. Andie hob den Blick zu Sharon Ann, ob dort wenigstens der Anflug eines Lächelns zu sehen war. Doch die Gerichtsdienerin war an diesem Morgen angespannt wie ein Flitzebogen.
Die Tür wurde aufgedrückt, und herein kam John O’Flynn rotgesichtig und reichlich schwitzend. »Jesses, Leute, da draußen geht’s zu wie im Zoo. Wie auf dem Long Island Expressway zur Hauptverkehrszeit. Unglaublich.«
»O’Flynn«, bestätigte Sharon Ann mit spöttischem Ton. »Ich dachte schon, ich müsste Sie per Funkfahndung suchen lassen. Morgen früh um neun Uhr dreißig, Mr. O’Flynn.« Sharon tippte mit ihrem Stift aufs Papier.
»Aye, aye, Ma’am.« O’Flynn salutierte und ließ sich neben Andie auf den Stuhl fallen.
»Morgen früh neun Uhr dreißig?«, stöhnte Hector, ein Kabelleger. »Sie meinen, der Prozess dauert so lange?«
»Acht Wochen, Mr. Ramirez«, erwiderte Sharon Ann. »Haben Sie in den nächsten zwei Monaten etwa was Besseres vor?«
»Ja, vielleicht meinen Lebensunterhalt verdienen«, antwortete der Kabelleger bedrückt.
Sharon Ann ging zur Tür. »Ich werde nachsehen, wie’s da drin läuft. Ich möchte Sie daran erinnern, sich an die Anweisung der Richterin zu halten und nicht über den Fall zu reden.«
»Klar.« Alle nickten. Aber nachdem die Tür ungefähr zwei Sekunden geschlossen war, schien es keinem mehr so klar zu sein.
»Dieser Cavello« – Winston, der Mechaniker, der immer noch in seinen Arbeitsklamotten dasaß, blickte die anderen an – »ich habe mich über ihn informiert. Hört sich nach einem ziemlich unheimlichen Typen an.«
»Mord, Erpressung, Körperteile in den Kofferraum von Autos stopfen. Damit lässt sich ganz gut die Verdauung blockieren«, gluckste Marc, der Krimiautor.
Rosella legte ihre Strickarbeit nieder. »Mein Mann hat ein bisschen Angst. Er hat gemeint: ›Wassis los, Rosie, kannste nich was über einen Verkehrsunfall kriegen? Musst du dich unbedingt mit diesem durchgeknallten Mafioso abgeben?‹«
»Immer mit der Ruhe«, unterbrach Andie sie, »ihr habt die Richterin gehört. Wir wissen noch gar nicht, ob er durchgeknallt ist. Wir müssen warten, bis wir die Beweise hören, um zu entscheiden, ob er durchgeknallt ist.«
Ein paar der anderen Geschworenen lachten.
»Allerdings«, Andie blickte sich in der Runde um, »was ist mit der Tatsache, dass diese Mafiosi alle unsere Namen kennen und wissen, wo wir wohnen?« Ein paar der Geschworenen nickten besorgt.
Die Tür zum Gericht wurde geöffnet. Irgendjemand machte pst. Andie hatte das Gefühl, als wollten alle sie mit ihren Blicken warnen.
Dann stand Sharon Ann da, den Blick ihrer eng stehenden Augen direkt auf Andie gerichtet. »In mein Büro«, verlangte sie. Ihr »Büro« war eine der beiden Toiletten, die beim letzen Mal zum Ort für private Unterhaltungen bestimmt worden war.
»Hä?«
»In mein Büro, Ms. DeGrasse«, befahl Sharon Ann.
Langsam und mit rollenden Augen erhob sich Andie und folgte der mürrischen Gerichtsdienerin in die enge Toilette.
»Glauben Sie nicht, ich wüsste nicht, was Sie vorhaben, Ms. DeGrasse«, schnauzte Sharon Ann, sobald die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war.
»W-was soll ich denn vorhaben?«, stammelte Andie. »Ich habe nichts gesagt, was nicht alle anderen da drin schon gedacht hätten.«
Selbst ihre Schwester Rita hatte das gesagt, gleich als Erstes. Hast du denn keine Angst? Ich meine, sie kennen dich, Andie. Es ist Dominic Cavello. Sie wissen, wo du wohnst. Du musst nicht erst Mutter sein, um Angst zu haben. Nur ein Mensch. Der ganze Auswahlprozess hat doch in aller Öffentlichkeit stattgefunden. »Hören Sie, Sharon Ann, ich …«
»Sie wollten sich von Anfang an vor Ihrer Pflicht drücken«, fiel ihr Sharon Ann ins Wort. »Ich lasse nicht zu, dass jemand die Geschworenen infiltriert. Ihrem Wunsch wird entsprochen – Sie sind Geschichte, junge Frau.«

Patterson James
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